Neuwerder im Havelland

Fritze, Freude, Eierkuchen

Kleine Geschichte des Kolonistendorfs Neuwerder
von Erik Heinrich

Gründervater soll der „Alte Fritz“ höchstselbst gewesen sein. Es fand sich dazu zwar bisher keine primäre Quelle, etwa eine Urkunde. Aber so steht es im Kalenderblatt des Kreises von 1917. Und selbst wenn es eine Legende sein sollte, ist es eine schöne, die von den „Neuwerderanern“ gerne angenommen und weiter gegeben wird.

Am 23. Juli 1779 hatte Friedrich der Große den immerhin 110 Meter hohen Gollenberg, die mächtigste Erhebung des Havellandes, bestiegen. Der Name des von Eiszeitgletschern zusammengeschobenen Steinhaufens leitet sich von slawisch Goly, nackt, kahl, ab, also „Kahler Berg“, was er zu jener Zeit auch war. Der Herrscher überblickte das Gebiet nördlich des Berges und zeigte sich beeindruckt von den Ergebnissen der umfangreichen Entwässerungsarbeiten im Luch zu seinen Füßen. „Das ist wahr, das ist wider meine Erwartung! Das ist schön!“ soll er, wahrscheinlich etwas atemlos, gerufen haben. Nur eines gefiel dem Regenten nicht: Ein Gebiet, das sich mit etwa 750 Morgen bis zum Rhin erstreckte, lag brach.

Friedrich befahl spontan, den Elsenbruch – mit Erlen bestandener Sumpf – roden zu lassen, um dort Hofstellen für Neusiedler – Holländer und andere Migranten – zu errichten. Dass es sich dabei um eine Zwangsenteignung handelte, denn das Gebiet gehörte zu den Liegenschaften der Familien von der Hagen zu Stölln und zu Rhinow, sowie von Bredow, focht den König nicht an. Wenn diese das Land nutzlos liegen ließen, solle es zu ihrem eigenen Vorteil umgewidmet werden.

Einen Kanon von zwanzig Talern jährlich hatte jede der 15 Siedlerfamilien für einen Schlag von 50 Morgen (12, 5 Hektar) zu entrichten. Auf die ursprünglichen Besitzverhältnissen geht im übrigen der kuriose Umstand zurück, dass die Bewohner Neuwerders je nach Dorflage drei Kirchengemeinden – Rhinow, Stölln, Kleßen – zugeordnet wurden.

Den Befehl zur Besiedlung gab Friedrich II. seinem Sekretär Werder, nach welchem der Ort folgerichtig benannt wurde, nämlich, da es Werder bei Potsdam bereits gab, Neu-Werder. Die Benennung von Ortschaften nach Staatsbeamten war im Übrigen sehr üblich und wurde auch bei anderen Kolonistendörfern der Umgebung, z.B. Siegrothsbruch, Bartschendorf oder Giesenhorst angewandt. Zugleich bedeutet „Werder“ auch Insel; Neuwerder ist eine trockene und etwas höher gelegene Sandinsel innerhalb eines Feuchtgebietes und war daher geeignetes Bauland.

Leider ist die Quellenlage, was die weitere Entwicklung des Dorfes betrifft, recht dürftig. Einiges über die Lebensumstände der Bewohner lässt sich aus der Struktur des Ortes und der Bauart seiner Häuser ablesen. Es handelt sich um typische märkische Mittelflurhäuser, angelehnt an die traditionelle Bauart des Niedersachsenhauses. Zentral liegt die Küche mit Kochstelle, daran schließen sich auf der einen Seite die Wohnräume an, zum anderen Giebel hin die Stallungen. Der Dachboden unterm Schilfdach wurde als Lager für Getreide, Heu und Stroh verwendet; gelegentlich befand sich dort auch ein Oberstübchen für das Gesinde oder eine Räucherkammer. Leben, Arbeiten, Lagern und Vieh halten – alles unter einem Dach. Justus Möser, der „Vater der Volkskunde“, lobte die Nützlichkeit dieses Hausaufbaus für die Bauersfrau: „Ohne von ihrem Stuhl aufzustehen übersieht sie zu gleicher Zeit drei Türen, dankt denen, die herein kommen, heißt sie bei sich niedersitzen, behält ihre Kinder und ihr Gesinde, ihre Pferde und Kühe im Auge, hütet Keller, Boden und Kammer, spinnt immerfort und kocht dabei.“

Über diese Behaglichkeiten hinaus buk die Bäuerin in Neuwerder noch Brot und manchmal Eierkuchen, und zwar, so lautet eine bekannte lokale Redensart, nur auf einer Seite des Dorfes. Denn in Neuwerder stehen die Häuser nur auf der Nordseite der Dorfstraße – mit zwei später hinzu gekommenen Ausnahmen. „Hier werden die Eierkuchen nur auf der einen Seite gebacken“, das hieß: In den Backhäusern auf der anderen Seite der Dorfstraße, die zu fast jedem Hof gehörten.

Wahrscheinlich waren Eierkuchen ein Festmahl und sicher war das Leben im Kolonistendorf beschwerlich. Unmittelbar nördlich hinter den Häusern lagen die Äcker, auf denen Getreide und Kartoffeln angebaut wurden; dahinter schlossen sich Weiden und Heuwiesen an, zu denen von jedem Hof aus ein Viehweg führte. Die Bewirtschaftung wurde durch Hochwässer im Frühjahr erschwert. Immerhin durften die Bauern im Winter und Frühjahr auf ihren überfluteten Äckern fischen gehen, zu fast jedem Hof gehörte ein Kahn. Die Bauern hatten außer der eigenen Wirtschaft auch Dienste für die Gutsherrschaften zu erledigen.

Gegen Ende des 19. Jahrhundert scheint sich die wirtschaftliche Situation gebessert zu haben. Die Chausseen nach Rathenow und Neustadt wurden ausgebaut. Ab 1904 hatte das nahe gelegene Städtchen Rhinow Bahnanschluss. Die Bauern konnten ihre Produkte weiträumiger absetzen; nach Berlin wurde Getreide für die Bevölkerung und Heu für die Pferde geliefert. Neben den Bauernhäusern entstanden in Neuwerder „neumodische“ Stall- und Scheunengebäude aus Backstein, die alten Fachwerkhäuser wurde großteils ausgemauert ; die Dachstühle wurden um einen Drempel aufgestockt und erhielten Ziegeldächer. Sogar eine Dorfschänke wurde eröffnet, der „Gasthof zur Guten Hoffnung“ von August Schulze. Zum Bedauern der Bewohner gibt es eine Dorfkneipe heute nicht mehr.

Zwei weitere zivile Errungenschaften erhielt Neuwerder im 19. Jahrhundert. Zum einen wurde 1848 der Friedhof errichtet, der noch heute so gepflegt und hübsch ist, dass sich die Bewohner beinahe darauf freuen, einmal dort zu liegen. Es befinden sich dort leider nur mehr Gräber aus diesem und dem vergangenen Jahrhundert, aber einige der Namen auf den Grabsteinen stammen von Siedlerfamilien der ersten Stunde. Auf dem Neuwerder Friedhof befindet sich auch, unauffällig und fast zugewachsen in einem hinteren Winkel, die Grabstelle des zu DDR-Zeiten bekannten Autoren und Satirikers Ulrich Speitel.

Zum anderen wurde in Neuwerder 1890 endlich eine Dorfschule gebaut. Mehr als überfällig, schließlich mussten die Dorfkinder vorher Schulwege von 6 Kilometern bis Stölln, zum Teil sogar an die 12 Kilometer bis Hohennauen zu Fuß bewältigen! Die Chronik der Dorfschule ging 1945 verloren. Überliefert ist lediglich ein handschriftlicher Bericht von Erich Marks, Dorfschullehrer von 1932 bis 1945, den dieser in der Nachkriegszeit verfasste. Marks schreibt, er habe bei seinem Antritt noch lange Schulbänke von 1890 vorgefunden, auf denen bis zu acht Schüler in Reihe saßen. Unterrichtet wurde in einer Klasse und in drei Altersgruppen erteilt. Der Lehrer kümmerte sich um jeweils eine Gruppe, während sich die beiden anderen mit „Stillarbeit“ zu befassen hatten. Kein Vergleich, fügte Marks hinzu, mit den großzügigen Bildungseinrichtungen des sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaates.

Seit seiner Gründung bis 1945 wohnten in Neuwerder durchgehend etwa 100 Personen; kurz nach dem Krieg drängten sich Flüchtlinge im Ort, zeitweise sollen hier an die 400 Menschen gelebt haben. Heute hat Neuwerder eine gemischte Bevölkerungsstruktur aus Alteingesessenen und nach der Wende zumeist aus Berlin Zugezogenen. Dank Nachwuchstendenz in den vergangenen Jahren blieben alle Häuser bewohnt; mit Hauptwohnsitz sind heute immerhin knapp 40 Seelen in Neuwerder gemeldet. Für eine neue Dorfschule oder ein neues Gasthaus dürfte das nicht reichen. Noch nicht.